Ost-Jerusalem, wo ist das?

23. Mai 2016

Eine StadtfĂĽhrung der besonderen Art…

Spät vormittags machten wir uns erneut auf den Weg nach Jerusalem, um mit unserem Tourguide, Yahav von ICAHD (Israeli Committee against house demolitions), eine Stadtbesichtigung der besonderen Art zu machen: Eine Tour durch Ost-Jerusalem. „Welches Ost-Jerusalem?“ möchte man zurĂĽck fragen, denn neben vielen anderen Dingen, fĂĽr die uns Yahav die Augen öffnete, fiel auch ziemlich schnell auf, dass es keinen offiziellen Stadtplan von Jerusalem gibt, in dem der Ostteil der Stadt ĂĽberhaupt vorkommt, in dem die palästinensischen Wohnviertel liegen und die Mauer verläuft.

Auf der dreistündigen Tour bekamen wir Einblicke in die Lebenslagen der Palästinenser und wie kompliziert und teilweise unverständlich die Regeln für die unterschiedlichen Teile Jerusalems und ihre Bewohner sind.

Die Ungerechtigkeit, die in fehlender Infrastruktur deutlich wird – von fehlenden StraĂźenbefestigungen, mangelnder Wasserversorgung ĂĽber fehlende Kanalisation bis zu wenig Schulen, ist augenfällig, vergleicht man den West- und Ostteil der Stadt und dies, obwohl alle Einwohner die gleichen Steuern zahlen!

Yahav machte uns klar, in welcher ZwickmĂĽhle Palästinenser im Ostteil der Stadt leben, entweder ihr Wohnrecht in Jerusalem zu verlieren, wenn sie wegziehen, um woanders mehr Platz fĂĽr ihre wachsende Familie zu haben, oder (ohne Baugenehmigung) ihre bestehenden Wohnungen und Häuser zu erweitern. Die Folge „illegaler“ Bauten ist häufig, ĂĽber lange Zeiträume hohe Strafen zu zahlen und trotzdem jederzeit damit rechnen zu mĂĽssen, dass das Militär plötzlich das eigene Heim mit kurzer Vorwarnzeit zerstört.

Nach Ansicht von Yahav steht bei den willkürlichen Hauszerstörungen für Israel nicht das einzelne Haus im Vordergrund, sondern vor allem auch, durch das scheinbar wahllos und nicht kalkulierbare Vorgehen bei möglichst vielen Menschen im betroffenen Stadtviertel ein Klima der Unsicherheit und Angst zu erzeugen.
Dieses Vorgehen soll den Palästinensern das Gefühl geben, jederzeit alles verlieren zu können und sie theoretisch daran hindern, weitere Gesetzesverstöße zu begehen.

Die Tour führte über die bisherige Hauptstraße nach Jericho, die plötzlich an der Mauer endet und früher eine lebendige und wirtschaftlich relevante Verbindung war, passierte Grundstücke zerstörter Häuser und schloss auf dem Ölberg an der Hebrew University of Jerusalem, wo die Trennung der Stadt besonders sichtbar wird: Links der Eingang zur sozialwissenschaftlichen Fakultät, rechts ein besonders verarmter palästinensischer Teil Ost-Jerusalems, in dem drei von fünf Straßenzugängen permament mit Steinen versperrt sind und zwei Mal pro Woche schwer bewaffnete Trupps des israelischen Militärs einfahren, um Häuser zu zerstören und Menschen zu verhaften.

An dieser Stelle stellte Yahav die Frage nach der Zukunft und dem Ausgang der Situation: Klar scheint nur zu sein, dass sie kollabieren wird, wenn alles so weiter läuft wie bisher. Ob dieser Kollaps jedoch friedlich oder gewalttätig geschehen, ober er letztlich Frieden oder absolutes Chaos bringen wird und inwiefern wer darauf welchen Einfluss haben könnte – alles scheint völlig offen und unkalkulierbar.
 
Mit diesen Eindrücken im Gepäck machten wir uns auf den Weg zu unserer letzten Station der Reise nach Tel Aviv und tauchten in eine komplett andere Welt abseits des erlebten Konflikts ab.


Annette

 
 

Empfohlene Beiträge